Vorgängerprojekt: Vergleichende Analyse von aktuellen antisemitischen Phänomenen im „Dark Social“.

Update 24. Februar 2024: Erkenntnisse des Projekts

Zum zweiten Jahrestag der russischen Großoffensive gegen die Ukraine wird das aktive Tracking auf dieser Seite eingestellt. Dies nehmen wir zum Anlass, ein Fazit zu ziehen sowie einige Erkenntnisse und Trends des Projekts darzustellen.

Vor genau zwei Jahren, am 24. Februar 2022, startete die russische Großoffensive gegen die Ukraine und damit eine neue Dimension eines Krieges, der bereits 2014 in der Ostukraine begann. Dieser Krieg dauert bis heute an und wütete von Anfang an nicht nur auf ukrainischem Territorium, sondern auch darüber hinaus in hybrider Form in den Medien und im digitalen Raum. Daran zeigt sich einerseits die große Rolle von Desinformation in modernen Kriegen. Andererseits – und damit einhergehend – ließ sich seit Beginn der großen russischen Invasion online ein massiver Anstieg antisemitischer Inhalte beobachten.


Ziel und Erkenntnisse des Trackings

polisphere hat diese Zunahme mithilfe eines Trackings ausgewählter Social-Media-Accounts verfolgt. Das Projekt wurde zum ersten Jahrestag der Invasion am 24. Februar 2023 bei einem Launchevent vorgestellt. Seitdem hat es weiterhin die aktuellen Entwicklungen antisemitischer Postings auf Social Media verfolgt und abgebildet. Nun, zum zweiten Jahrestag, wird das aktive Tracking in diesem Format eingestellt.


Dies nehmen wir zum Anlass, um einigen Fragen nachzugehen und ein Fazit zu ziehen: 

  • Welche Erkenntnisse haben wir seit Beginn des Trackings gewonnen? 
  • Was hat sich über die Zeit verändert, welche Kontinuitäten konnten wir beobachten? 
  • Und welche Entwicklungen sind in Zukunft denkbar?


Zu Beginn des Projektes konnte polisphere eine Hochphase antisemitischer Postings beobachten, die von Kriegsbeginn bis ca. Sommer 2022 andauerte. Darauf folgte eine langsame Abnahme offen antisemitischer Beiträge, die sich ab Sommer 2023 auf einem niedrigen, aber konstanten Niveau stabilisierten. Während sich der Tracker insbesondere in der Hochphase auf bis zu zehn verschiedene Plattformen fokussierte, sind vier davon aufgrund ihrer Größe und Relevanz sowie der dortigen Anzahl antisemitischer Postings hervorzuheben: Twitter/X, Telegram, YouTube und die deutschsprachige Webseite des russischen Nachrichtenmediums RT (früher Russia Today). Deren Entwicklung ist daher von besonderem Interesse, wobei wir zwischen plattformspezifischen und plattformübergreifenden Veränderungen unterscheiden können.


Weniger Antisemitismus mit Bezug zur Ukraine

So haben sich auf der Kurznachrichtenseite X, ehemals Twitter, neben dem anhaltenden Fokus auf die Corona-Pandemie neue Schwerpunkte auf Themen wie Asyl bzw. Flucht und Queerfeindlichkeit etabliert. Allen Schwerpunkten ist aber gemein, dass ihnen regierungskritische bis staatsfeindliche Muster zugrunde liegen. Auch der Krieg in der Ukraine wird weiterhin täglich thematisiert, jedoch kommentieren die betreffenden Accounts inzwischen nur noch selten durch eine antisemitische Linse. Vielmehr werden immer wieder neue Vorwürfe gegen die ukrainische Regierung und deren Unterstützer oder pro-russische Darstellungen ohne deutliche antisemitische Färbung geteilt. Der allgemeine Anstieg antisemitischer Hassrede auf der Plattform, der durch verschiedene Auswertungen in den vergangenen Monaten festgestellt werden konnte, spiegelt sich jedenfalls nicht im Zusammenhang mit der russischen Invasion.


Auch im Messengerdienst Telegram ist auf den von polisphere beobachteten Kanälen zwar nach wie vor der russische Angriffskrieg ein Thema, aber inzwischen spielen auch Queerfeindlichkeit, Rassismus, das Coronavirus, Regierungskritik und seit Ende 2023 der Nahost-Konflikt vermehrt eine Rolle - ähnlich wie auf Twitter/X. In Bezug auf Antisemitismus im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg ist das Narrativ der Gleichsetzung aller Ukrainer:innen mit Nazis noch immer am präsentesten. Zudem findet sich ein hoher Grad der Vernetzung unter den Kanälen, die sich mit dem Thema des russischen Angriffskriegs beschäftigen, indem Inhalte weitergeleitet und wiederverwendet werden. Jedoch existieren einige der anfangs beobachteten Kanäle mittlerweile nicht mehr, auch wenn von diesen gespiegelte oder ähnliche Versionen erstellt wurden.


Ähnliche Ergebnisse zeigen sich sowohl auf der Webseite von RT DE als auch auf den beobachteten YouTube-Kanälen: Einerseits fanden hier in den letzten Monaten thematische Verschiebungen statt, andererseits wird der Krieg trotz dauerhafter Thematisierung kaum noch mit antisemitischen Narrativen verbunden. Auf YouTube kommt hinzu, dass einige der Kanäle mittlerweile kaum noch Aktivität vorweisen, keine neuen Videos hochladen oder ihre Inhalte aufgrund von Sperrungen zu anderen Plattformen gewandert sind.


Plattformspezifische Differenzen

Dabei lassen sich je nach Plattform Unterschiede in der Ansprache der Follower:innen, Leser:innen oder Abonnent:innen erkennen: Auf Twitter/X entsteht bei den von polisphere beobachteten Accounts eher ein “Bubble”-Gefühl, deren Teilnehmer:innen sich mittlerweile wenig auf die Ansprache nach außen konzentrieren und die Plattform mehr als Ventil für Frustration, Wut und Hass nutzen – unabhängig davon, wie viele Menschen damit erreicht werden. Auch wenn auf Beiträge anderer Accounts, etwa von Medien oder Politiker:innen, geantwortet wird, handelt es sich dabei mehr um konstante Wiederholungen derselben Inhalte als um ernsthafte Argumentationsversuche. 


Telegram und auch YouTube fokussieren sich neben dieser gegenseitigen Verstärkung stattdessen zusätzlich auch auf die Ansprache noch unbeteiligter Personen und unternehmen Informations- und Rekrutierungsversuche, um mehr Menschen von “ihrer Sache” und der angeblichen “Wahrheit” zu überzeugen. Ähnliches lässt sich über das russische Medium RT DE sagen, das sich als kritisch und unabhängig fernab vom “Mainstream” bzw. den “System-Medien” darstellt und dem deutschen Publikum einen “alternativen Blick” auf politische Geschehnisse verspricht.


Ebenso unterschiedlich wie die Atmosphäre auf den jeweiligen Plattformen ist auch die Entwicklung der Followerzahlen: Auf Twitter/X und YouTube ist in den vergangenen Monaten größtenteils ein weiterhin klares Wachstum erkennbar, im Falle der inaktiven YouTube-Kanäle stagnieren die Abonnentenzahlen und sinken kaum. Die Zahlen auf Telegram sind dagegen stark schwankend und tendieren größtenteils zum Rückgang. Die genauen Gründe dafür sind unklar und können nur vermutet werden. 


Ein Erklärungsansatz wäre die unterschiedliche Beschaffenheit der Plattformen: Während Twitter/X und YouTube als Apps bzw. Webseiten gezielt geöffnet werden müssen, sendet Telegram als Messenger-App direkt Benachrichtigungen auf das Handy, was deutlich “aufdringlicher” wirken kann. Daher liegt die Vermutung nahe, dass bei den – häufig mehrmals täglich versendeten – Telegram-Nachrichten die Bereitschaft zum Entfolgen eines Kanals deutlich höher liegt als auf Twitter/X und YouTube, die sich leichter ignorieren bzw. einfach nicht nutzen lassen. 


Bei dem konstanten Followerwachstum auf Twitter/X fällt zudem das erhöhte Botaufkommen und das Phänomen der Fake-Follower stark ins Gewicht, insbesondere seit der Übernahme der Plattform durch Elon Musk im Oktober 2022. Im Falle Telegrams lassen sich die Follower eines Kanals nicht von Dritten einsehen, wodurch die Analyse hier erschwert wird und weitere Gründe für die beobachteten Diskrepanzen daher nicht ausgeschlossen werden können.


Grundlegend antisemitisches Weltverständnis

Gemeinsam haben die beobachteten Accounts auf allen vier Plattformen, dass eine latent antisemitische Grundhaltung bestehen bleibt, die jedoch weniger in einzelnen Posts zum russischen Angriffskrieg offen zutage tritt. Daher ließ sich besonders im letzten Jahr plattformübergreifend ein Rückgang antisemitischer Postings auf der Tracker-Website beobachten – was jedoch nicht so interpretiert werden sollte, dass Antisemitismus insgesamt zurückgeht. Vielmehr scheint das antisemitische Framework zu Beginn des Krieges vermehrt mit Bezug auf die Ukraine etabliert worden zu sein und wird nun für die Interpretation aktueller Geschehnisse genutzt: Narrative wie die angebliche Errichtung einer New World Order, die Rolle einer geheim agierenden (globalen) Elite als “Marionettenspieler” oder auch die Gleichsetzung aller Ukrainer:innen mit Nazis zur Kriegsrechtfertigung finden sich in aktuellen Inhalten oft impliziert wieder. Dies wird jedoch in der Regel erst bei der Gesamtbetrachtung eines Accounts offensichtlich und schlägt sich daher nicht anhand jedes einzelnen Postings im Tracker nieder.


Gleichzeitig macht sich ein Gewöhnungseffekt bemerkbar und eine gefährliche Normalisierung antisemitischer Grundhaltungen, die auch in Bezug auf andere (oft marginalisierte) Gruppen auffällt. Besonders lässt sich dies anhand der kontinuierlich beobachteten Hassrede gegen verschiedene Gruppen demonstrieren: Unabhängig vom tatsächlichen Ziel des Hasses wird davon ausgegangen, dass es sich um eine übermächtige und gefährliche Elite handelt, die im Geheimen agiert und dem “Volk” schaden will. Dabei kann die “Elite” einerseits aus Politiker:innen und deren Organisationen wie WEF und NATO zusammengesetzt sein, andererseits richtet sich dieses Narrativ jedoch häufig auch gegen migrantische oder queere Menschen, durch die die “deutsche Gesellschaft” angeblich manipuliert werde.


Die von uns beobachteten Accounts verstehen sich im Kontrast dazu als Aufklärer, die diese geheimen Pläne enttarnen und davor warnen. Dies ist nicht nur eine stark populistische Darstellung aktueller Geschehnisse. Vielmehr stellt die Annahme, dass eine geheime Elite die weltpolitische Agenda steuere, auch eines der ältesten und grundlegendsten antisemitischen Vorurteile dar.


Israelbezogener Antisemitismus 

Neben den bereits genannten thematischen Verschiebungen lässt sich seit dem 7. Oktober 2023 auch ein massiver Anstieg von israelbezogenem Antisemitismus auf Social Media erkennen. Bei den von uns beobachteten Accounts beinhaltet dies etwa die Gleichsetzung israelischer Soldaten mit Nazis, wobei deren Vorgehen mit dem Holocaust verglichen wird. So werden israelische bzw. jüdische Menschen als besonders gewalttätig dargestellt. Auch das uralte antisemitische Narrativ von jüdischen Menschen als “Kindermördern” tritt wieder in Erscheinung. Daneben findet sich auch der sog. “chasarische Mythos”, der davon ausgeht, dass die Unterstützung Israels auf eine weltweit agierende “chasarische Mafia” zurückgeht. Dieses Narrativ verbreitet sich etwa auf Twitter/X, Telegram oder auch in bestimmten Facebook-Gruppen, die extra dafür angelegt wurden. 


Diese – bei weitem nicht abschließende – Liste an Narrativen zeigt erneut, dass die antisemitische Grundhaltung bei vielen Accounts zwar teils latent geworden ist, jedoch jederzeit bei entsprechenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen wieder offen zum Vorschein kommen kann und durch eine Eskalationsspirale auf Social Media zunehmend Einfluss auf gesellschaftliche Diskurse nimmt.


Daran zeigt sich auch, wie ungebrochen relevant die Beobachtung von Antisemitismus online ist: Eine Vergiftung des Diskurses im Netz führt nicht nur im digitalen Raum zu gravierenden Problemen wie Hassrede und Minderheitenfeindlichkeit, sondern wirkt sich auch offline auf Gesellschaft und Politik aus. Einer Normalisierung antisemitischer Narrative muss daher bereits online entgegengetreten werden, um deren “Sprung” in andere Bereiche des Lebens zu verhindern. 


Dies ist insbesondere wichtig, da die Verbreitung von Antisemitismus und genereller Desinformation ihren Höhepunkt noch nicht erreicht zu haben scheint und immer neue Formen annimmt: So zeigt etwa ein Report des Institute for Strategic Dialogue, dass auch KI-Tools zur Bildgenerierung sich leicht für die Erstellung antisemitischer Desinformation, z.B. mit Holocaustbezug, verwenden lassen. Und dies stellt nur einen Bruchteil der Strategien dar, die von Desinformationsakteuren aktuell genutzt werden. Daher bleibt das Monitoring antisemitischer Inhalte im digitalen Raum auch weiterhin von hoher Relevanz, um als Gesellschaft aktiv reagieren, vorbeugen und gegensteuern zu können.


Maike Dörnfeld

unter Mitarbeit von Lilien Fährmann und Hannah Schimmele

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