Klassische antisemitische Vorstellungen
Der westliche Judenhass hat eine über 2000 Jahre alte Geschichte und wurzelt im christlichen Anti-Judaismus. Alte anti-jüdische Stereotype aus dem Mittelalter wurden später säkularisiert und im Nationalsozialismus mit rassentheoretischen Vorstellungen vermischt. Bis heute sind viele dieser klassisch antisemitischen Stereotype weit verbreitet.
Personifizierung des Bösen und Satansmotiv
In diesem Narrativ, das seinen Ursprung im christlichen Anti-Judaismus hat, werden Jüdinnen und Juden als das personifizierte Böse beschrieben und häufig mit dem Satan in Verbindung gebracht: Sie würden diesen anbeten und dafür bestimmte Rituale durchführen. Aufgrund der ihnen zugeschriebenen Boshaftigkeit werden Jüdinnen und Juden auch als Verursacher:innen des Krieges in der Ukraine angesehen.
Jüdinnen und Juden als Gewalttäter:innen
Bei diesem Motiv geht es darum, Jüdinnen und Juden als Täter:innen darzustellen. Es werden insbesondere Fotos und Videos mit (Kriegs-)Gewalt genutzt, beispielsweise von Leichen oder vermeintlicher Folter. Die Verantwortung für die gezeigte Gewalt wird dabei den Ukrainer:innen zugewiesen, die gleichzeitig mit dem Judentum in Verbindung gebracht und/oder als Nazis bezeichnet werden. Auch dieses Narrativ ist nicht neu, schon seit Jahrhunderten werden Jüdinnen und Juden im antisemitischen Weltbild als besonders gewaltaffin oder blutrünstig imaginiert.
Ritualmordlegende & Kannibalismus
Die zugrunde liegende antisemitische Verschwörungserzählung besagt, dass Jüdinnen und Juden Tier- und Menschenopfer durchführten oder das Blut von Kindern trinken würden. Zudem wird behauptet, dass die Ukrainer:innen Kannibalen seien – sie werden dabei mit antisemitischen Vorstellungen von angeblichen „jüdischen Eigenschaften“ assoziiert. Dieses Narrativ geht auf die mittelalterliche Ritualmordlegende zurück. Schon im damaligen Anti-Judaismus wurde Jüdinnen und Juden vorgeworfen, christliche Kinder rituell zu ermorden und ihr Blut zu trinken. Diese Vorstellung ist eng verknüpft mit der Personifizierung des Bösen sowie der Darstellung von Gewalttaten.
Chasarischer Mythos
Der chasarische Mythos vermischt schwierig nachweisbare historische Ereignisse aus dem frühen Mittelalter mit tradierten antisemitischen Erzählungen – ist jedoch erst in den 1970er Jahren entstanden. Im Kern geht es um die Chasaren, ein halb-nomadisches Turkvolk, die zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert in Gebieten des heutigen Russlands und der Ukraine ansässig waren und womöglich zum Judentum übergetreten sind.
Die antisemitische Deutung des chasarischen Mythos schreibt ihnen Diebstähle, Satansanbetung sowie die Entführung und Opferung von Kindern zu. Nach der angeblichen Vertreibung durch die Russen hätten die Chasaren ein globales Bankensystem erschaffen, seien aufgrund des Wunsches, sich an Russland zu rächen, in ukrainische und russische Gebiete zurückgekehrt – und würden nun den Versuch unternehmen, auf dem Gebiet der Ukraine ein neues Chasaren-Reich zu erschaffen.
Geld- bzw. Gier-Stereotyp
Die angebliche Geldgier von Jüdinnen und Juden ist ein jahrhundertealtes antisemitisches Stereotyp, das nun auf die Ukraine übertragen wird. Die Ukraine wird dabei durch die Verknüpfung mit antisemitischen Anspielungen, Mockwörtern und jüdischer Symbolik implizit als jüdisch markiert. Demnach sei die Ukraine eine geldgierige Nation, deren Hunger nach Geld und Reichtum nie erschöpft sei oder gestillt werden könne. Diese Gier würde zusätzlich durch die USA befeuert, indem sie hohe finanzielle Mittel in die Ukraine fließen lassen. Hier zeigt sich eine Verbindung zum „Globalisten“-Narrativ.
Körperliche Stereotype
Bei diesem Narrativ werden althergebrachte rassentheoretische Stereotypen über das Aussehen von Jüdinnen und Juden bedient. Beispiele sind etwa antisemitische Karikaturen, die den jüdischen Präsidenten der Ukraine Selenskyj mit bestimmten exaggerierten (körperlichen) Eigenschaften darstellen. Im Kontext des Ukraine-Krieges werden zum Beispiel altbekannte Bilder von der angeblich großen „jüdischen Nase" gezeigt, wie sie schon in nationalsozialistischen Karikaturen verbreitet wurden.
Neuere Verschwörungserzählungen bzw. neue Ausprägungen älterer Motive
Die einzelnen Narrative dieser Kategorie sind oft Ausprägungen eines umfassenden antisemitischen Welterklärungsmusters, wonach fast alles (Politik, Medien, die Ukraine, Deutschland usw.) von mächtigen Eliten oder fremden Mächten gesteuert würde, die mehr oder weniger explizit als jüdisch identifiziert werden. Da seit dem Ende das Nationalsozialismus offener Antisemitismus zunehmend tabuisiert wurde, wird die Vorstellung von der jüdischen Weltverschwörung heute häufig durch die sogenannte Umwegkommunikationen und sprachliche Codes kommuniziert. Dabei werden neue Worte für das gleiche alte Weltbild verwendet: Statt von Juden ist – bei gleichbleibendem Narrativ – von mysteriösen Finanzeliten, Strippenziehern oder Globalisten die Rede.
Eliten-Verschwörungsmotiv
Das Narrativ der Eliten-Verschwörung nutzt vor allem Inhalte, die die Existenz einer (vermeintlich) jüdischen „Finanzelite” suggerieren. Diese würde Politik und Medien kontrollieren, sei der wahre Verursacher des Krieges und würde ihn steuern, um daran zu verdienen. Als vermeintliche Vertreter der Eliten-Verschwörung werden häufig die Namen von George Soros, Klaus Schwab, Bill Gates oder Ihor Kolomojskyj genannt. In diesem Kontext wird zum Beispiel auch behauptet, dass diese Eliten Selenskyj ins Amt gehoben hätten und ihn lenken würden. Das Narrativ ist eng verwandt mit dem globalistischen Motiv, eine Verschwörungsvariation mit größerem Fokus auf internationale Verflechtungen.
Globalistisches Motiv
Grunderzählung ist hier, dass die Ukraine von der vage definierten Gruppe der „Globalisten“ finanziert würde. Zugehörig zu dieser Gruppe seien einerseits das Weltwirtschaftsforum und dessen Gründer Klaus Schwab, andererseits diverse westliche Staaten (vorwiegend die USA und die EU). Deren Motivation zur Finanzierung der Ukraine wird unterschiedlich erklärt: z.B. als direkte Unterstützung der ukrainischen „Nazis“ bzw. des „Faschismus“ oder um Russland zu stürzen, das zum „letzten Gegner der Globalisten“ erhöht wird. Letztlich gehe es den „Globalisten“ – ähnlich wie beim Narrativ der Eliten-Verschwörung – aber vor allem darum, sich selbst zu bereichern.
New World Order & Great Reset
Bei Posts dieser Kategorie wird der Krieg in der Ukraine in die Verschwörungserzählung einer berüchtigten „New World Order“, also einer neuen Weltordnung, die eine Elite umsetzen wollen würden, integriert. Zugleich bestehen große Schnittmengen zu den Narrativen der Eliten-Verschwörung und der Globalisten-Erzählung: Mitglieder dieser Elite (wie George Soros, oder Bill Gates) würden durch einen „Great Reset“ die neue Weltordnung herbeiführen wollen. Dies bezieht sich auf eine Initiative des Weltwirtschaftsforums aus dem Jahr 2020, die die problematischen Folgen des Klimawandels und der Covid-19-Pandemie adressieren sollte. Diese wird in dieser Verschwörungserzählung zu heimlichen Weltherrschaftsplänen umgedeutet. Der Krieg in der Ukraine wird als Teil dieser Pläne dargestellt.
Marionetten- bzw. Strippenzieher-Erzählung
Dieses Narrativ überschneidet sich zu großen Teilen mit den Eliten- und Globalisten-Motiven. Analog wird davon ausgegangen, dass die Ukraine wie eine Marionette von außen durch eine übergeordnete Macht im Hintergrund kontrolliert und gelenkt würde. Als externe Strippenzieher werden z.B. die USA, die EU, der Westen generell, globale Institutionen wie das Weltwirtschaftsforum oder pauschal „die Juden“ angesehen. Hier zeigt sich oft eine Verbindung zum antisemitischen Antiamerikanismus.
Staats- und geschichtsbezogener Antisemitismus
Antisemitischer Antiamerikanismus
In diesem Narrativ verkörpern die USA prinzipiell das Böse, ähnlich wie Jüdinnen und Juden im Antisemitismus. Die Narrative dieses radikalen Antiamerikanismus weisen systematisch auf einen zu Grunde liegenden Antisemitismus hin, der Amerika als Zentrum jüdischer Macht wahrnimmt bzw. die US-amerikanische Machtpolitik als Ergebnis des Einflusses jüdischer Lobbygruppen betrachtet. Amerika wird häufig als das Zentrum einer angeblichen jüdischen Finanzelite porträtiert, z.B. durch antisemitisch konnotierte Erwähnungen der US-Börse oder der Wall Street. Die Grundannahme dieses Narrativs besteht darin, dass die USA die Ukraine kontrollieren würden, um die eigene Vorherrschaft zu konsolidieren und auszubauen. Gleichzeitig diene diese Kontrolle der Zerstörung Russlands und/oder dem Test von amerikanischen Waffen. Durch die große strukturelle Ähnlichkeit der Narrative stärkt der Antiamerikanismus antisemitische Denkmuster auch dann, wenn Jüdinnen und Juden nicht direkt genannt werden.
Israelbezogener Antisemitismus
In diesem Narrativ werden antisemitische Äußerungen gegen Israel mit der Ukraine verbunden. So wird der israelische Staat zum einen dämonisiert, delegitimiert und als eine Besatzungsmacht beschrieben, die die palästinensische Bevölkerung mit Unterstützung des Westens unterdrücke. Zum anderen werden diese Vorwürfe mit der Ukraine verknüpft, die die „russische” Bevölkerung in gleicher Weise unterdrücke. Teilweise wird auch behauptet, dass die unterdrückende Elite in der Ukraine Jüdinnen und Juden seien oder dort Platz für eine israelische „Horde“ geschaffen werden soll, die in die Ukraine gehen wolle.
NS-Rhetorik
Bei diesem Narrativ greifen Akteur:innen auf typische Begriffe aus der Sprache des Nationalsozialismus, der den rassistischen Antisemitismus prägte, zurück, um die „Befreiung“ der Ukraine von den dort angeblich herrschenden „Nazis“ darzustellen. Zum Beispiel ist dann von der „Säuberung“ bestimmter Gegenden oder von ukrainischen „Parasiten“ die Rede. Die Nutzung von NS-Rhetorik schafft eine Anschlussfähigkeit für bereits radikalisierte rechtsextreme Gruppierungen. Hierbei werden immer wieder implizite Bezüge zum Holocaust und der Wunsch eines vergleichbaren Genozids an den Ukrainer:innen deutlich.
Gleichsetzung: Ukraine und Nazis
In diesem Narrativ werden Ukrainer:innen als Nazis und Antisemiten dargestellt, um sie und ihren Widerstand gegen Russland zu diskreditieren. Es findet dabei eine klassische Täter-Opfer-Umkehr statt. So wird z.B. der jüdische Präsident Selenskyj mit Hitler gleichgesetzt, primär durch entsprechende Visualisierungen oder die Bezeichnung als „Führer“. Nationalsozialistische Symbole des Asow-Regiments werden auf das gesamte ukrainische Militär projiziert oder das Bekenntnis einiger Ukrainer:innen zum nationalistischen Politiker Bandera (1909–1959) verallgemeinert. Auf diese Weise soll der Eindruck entstehen, dass die ganze Ukraine von Nazis kontrolliert werde. Es ist der zentrale Vorwand, mit dem die russische Führung den Angriffskrieg legitimiert. Die Gleichsetzung von Jüdinnen und Juden, wie zum Beispiel Selenskyj, mit Nazis wird in rechtsextremen Gruppierungen seit der Nachkriegszeit systematisch wiederholt.
Relativierung des Holocausts
Die Relativierung des Holocausts erfolgt, indem den ukrainischen Soldat:innen ähnliche Verbrechen wie im Nationalsozialismus vorgeworfen und Verbindungen zum Dritten Reich gezogen werden: z.B. die wahllose Hinrichtung von Zivilist:innen und russischen Soldat:innen. Dadurch wird die historische Singularität des Holocausts immer wieder implizit in Frage gestellt. Das Narrativ weist große Ähnlichkeit zur Gleichsetzung der Ukraine mit den Nazis auf.
Rhetorische Techniken
Beschimpfung
Bei dieser Methode werden abwertende, gegen Jüdinnen und Juden bzw. die Ukraine gerichtete antisemitische Begriffe verwendet, die den russischen Angriffskrieg und Gewalt gegen Ukrainer:innen legitimieren sollen. Dabei ist z.B. von „Judenpack”, „Abschaum”, „Mischpoke” oder „jüdischen Kanacken” die Rede.
Mockwörter
Durch die Verwendung von sogenannten Mockwörtern (z.B. „Jewkraine“ oder „Ziukraine“) wird die Ukraine mit dem Judentum gleichgesetzt. Auf diese Weise wird der Eindruck erweckt, dass die Ukraine unter der Kontrolle des Judentums stehe.
Verwendung jüdischer Symbolik
Diese Methode setzt die Ukraine mit dem Judentum gleich und stellt sie als durchweg jüdisch dar. Zu diesem Zweck werden Bilder und Videos, die mit der Ukraine oder Selenskyj verbunden sind, mit jüdischer Symbolik überladen – z.B. Davidsterne oder die Chanukkia. Dies ist Teil der sogenannten „Hahaganda”, die bestimmte Themen lächerlich machen möchte, um ernsthaften Argumenten und Diskussionen aus dem Weg zu gehen.
Aufruf zur Zerstörung jüdischer Symbolik
Bei dieser Methode richten sich die Beiträge gegen jüdische Symbolik im weitesten Sinne, etwa Synagogen oder Chanukkias, indem zu ihrer Zerstörung in der Ukraine aufgefordert wird. Häufig wird zugleich auch direkt zu Gewalt gegen jüdische Personen aufgerufen.
Relativierung von Antisemitismus
Eine spezielle Unterart antisemitischer Rhetorik ist die Relativierung antisemitischer Aussagen. Dies lässt sich v.a. dann beobachten, wenn jüdische Menschen zitiert werden, die sich positiv über Russland und dessen Politik oder negativ über die Ukraine äußern. Solchen Aussagen wird vermeintliche Legitimität zugeschrieben, weil die Sprecher:innen „selber Juden“ seien.
Hier tritt der logische Irrtum des sogenannten appeal to authority auf: Es wird die Annahme zugrunde gelegt, dass Autoritäten und Expert:innen in ihrem Feld prinzipiell richtig liegen. In diesem Fall wird also angenommen, dass eine einzelne jüdische Person automatisch für alle Jüdinnen und Juden sprechen kann und z.B. die Deutungshoheit über Antisemitismus besitzt. Zudem wird die Identität dieser Person auf ihr Jüdischsein reduziert.